Donnerstag, 29. April 2010

Laotse - vom Krieg


Wer auf dem rechten Weg
den Herrscher berät
ist gegen Waffengewalt

Unter Waffen gehen
heißt untergehen
Hinter den Heeren
wachsen Disteln und Dornen
Große Armeen
bringen große Armut

Erreiche dein Ziel
das ist genug
Vertraue nicht den Waffen
Erreiche dein Ziel
ohne Stolz
ohne Prahlen
ohne Hochmut
aus Notwendigkeit
aber hüte dich
vor der Gewalt

Denn nach dem Sieg
folgt der Niedergang
ohne den rechten Weg
geht es rasch zu Ende

(Laotse aus dem Ta Te King,
Übersetzung und Nachdichtung von Bodo Kirchner)

Mittwoch, 28. April 2010

Laotse - von der Einheit des Tao


Der rechte Weg ist ewig
von namenloser Schlichtheit
und obwohl unscheinbar
kann er nicht erfaßt werden

Wären die Herrscher fähig
den Weg zu bewahren
würden alle Wesen folgen
Himmel und Erde sich vereinigen
um süßen Tau zu regnen
und das Volk, ohne Zwang
wäre redlich und einig.

Beginnt die Unterscheidung
so entstehen Begriffe
Wenn Begriffe auftauchen
ist es besser innezuhalten
Weiß man innezuhalten
entsteht keine Gefahr

Der rechte Weg ist in der Welt
wie Bäche und Flüsse
in den Strömen und Meeren

(Laotse aus dem Tao Te King,
Übersetzung und Nachdichtung von Bodo Kirchner)

Dienstag, 27. April 2010

Begegnung mit der Riesenschlange

Vor einem Jahr, genau hier, hatte ich eine Begegnung der besonderen Art. Locker radelte ich mit der frisch gewaschenen Wäsche auf dem Gepäckträger über den Radweg, setzte gerade an, eine junge Frau zu überholen, mein Vorderrad auf gleicher Höhes ihres Hinterrads, eine Blindschleiche huscht über den Weg.

Rumm, wumm, die Dame reißt ihr Rad nach links, Vollbremsung. "Iiiiiiiih!!!! kreischt es in mein Ohr. Wwwwwou! Ich fliege geradewegs über den Lenker, meine Nase und Lippe rutschen über den Asphalt. "Oooooh!!!" höre ich, "oooooh, die Riiiiesenschlange...ooooh!" Zerschunden liege ich auf der Fahrbahn, rotes Blut fließt, höllischer Schmerz, die Lippe dicker und immer dicker...

"Was habe ich nur gemacht?" höre ich, drehe meinen Kopf dem Ruf entgegen. "Iiiiih das ist ja furchtbar, furchtbar! Oh Gott" Damit war ich gemeint. "Kann ich ihnen helfen?"

"Besser nicht". Dies zu meiner Begegnung mit der Riesenschlange: Kollateralschaden... 

Montag, 26. April 2010

Was ich dir gesagt habe

Was ich Dir gesagt habe gilt für die Wolken
Was ich dir gesagt habe gilt für den Meeresbaum
für jede Welle für die Vögel im Blätterwerk
für die Kiesel des Geräusches
für die vertrauten Hände
für das Auge das Antlitz wird oder Landschaft
und der Schlaf gibt ihm den Himmel seiner Farbe wieder
für die ganze vertrunkene Nacht
für das Gitter der Straßen
für das offene Fenster für eine entdeckte Stirn
Was ich dir gesagt habe gilt für deine Gedanken 
für deine Worte:
Jede Liebkosung jedes Vertrauen hat seine Dauer 
und überdauert sie

(Paul Eluard)

Sonntag, 25. April 2010

Meine süße alte undsoweiter


Meine süße alte undsoweiter
Tante Minna war im letzten Welt-

krieg imstande allen Leuten
haarklein zu erklären und
sie tats auch welchen höhern

Sinn das ganze hatte,
meine Schwester

Isabell schuf an die hundert
(und aber
hundert) Socken ganz
abgesehn von Hemden ungezieferfreien Ohr-

undsoweiter Puls- undsoweiter Wärmern, meine
Mutter hoffte dass ich

sterben würde undsoweiter
natürlich heldenhaft mein Vater wurde
immer heiser vor lauter Feld
der Ehre und wenn er nur
könnte wie er wollte und unter-

dessen lag ich undsoweiter einfach
im tiefen Dreck undso

weiter
(von deinem 
Lächeln träumend,
und
soweiter,
deinen Augen, deinen Knien und
deiner Undsoweiter)

Edward Estlin Cummings

Sonntag, 18. April 2010

Häuptling Seattles Rede

Foto der Skyline von Seattle mit dem Wahrzeichen der Stadt der "Space Needle"

Die Stadt Seattle im nordamerikanischen Bundesstaat Washington trägt den Namen von Häuptling Noak Seattle vom Stamm der Duwamish-Indianer. Vermutlich 1786 auf Blake Island geboren, starb er am 7. Juni 1866 im Duwamish-Reservat. 1854 hielt er eine Rede von etwa einer halben Stunde Dauer vor dem Gouverneur des Washington-Territoriums. Die Rede wurde nicht niedergeschrieben, doch von mehreren Quellen mündlich überliefert, später aufgeschrieben. Hier meine Übersetzung aus dem Englischen einer verkürzten Fassung des Textes von Dr. Perry, welche bei Expo '74 in Spokane im Bundesstaat Washington veröffentlicht wurde. Der Stamm der Duwamish-Indianer erlosch vor genau 100 Jahren.

Häuptling Seattles Rede:

Der Präsident in Washington läßt uns wissen, dass er wünscht, unser Land zu kaufen. Aber wie kann man den Himmel verkaufen oder kaufen? Dieser Gedanke ist uns fremd. Da uns die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht gehören, wie kann man es kaufen?

All dies Land ist meinem Volk heilig. Jede glänzende Piniennadel, jeder Sandstrand, die Nebel in den dunklen Wäldern, jede Wiese, jedes summende Insekt. All dies sind gelebte Erfahrungen meines Volkes und heilig. 

Wir wissen von dem Saft, der in den Bäumen aufsteigt, so wie wir von dem Blut wissen, welches durch unsere Adern fließt. Wir sind Teil der Erde und sie ist Teil von uns. Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern. Der Bär, der Hirsch, der große Adler, sie sind unsere Brüder. Der felsige Höhengrat, der Tau auf der Wiese, der warme Leib eines Pferdes und der Mensch. Wir alle gehören zur selben Familie.

Das im Sonnenlicht blinkende Wasser der Flüsse und Bäche, ist nicht einfach Wasser, es ist der Lebensquell unserer Vorfahren. Wenn wir euch unser Land verkaufen, dürft ihr nicht vergessen, es ist heilig.

Jeder Lichtstrahl, der sich auf der Wasserfläche des Sees spiegelt, erzählt von Begebenheiten und Erfahrungen im Leben meines Volkes. Das Murmeln des Wassers ist die Stimme des Vaters meines Vaters.

Die Flüsse sind unsere Brüder. Sie löschen unseren Durst. Sie tragen unsere Boote und nähren unsere Kinder. Behandelt den Fluß als Freund, als Bruder. 

Wenn wir unser Land verkaufen, denkt daran, die Luft ist uns kostbar, sie teilt ihren Geist mit allem Leben. Der Wind gab unseren Vorfahren den ersten Atem und er nahm den letzten Seufzer ihres verlöschenden Lebens auf. Der Wind haucht unseren Kindern das Leben ein. 

Wenn wir unser Land verkaufen, müsst ihr es belassen und es ehren als einen Ort, wo der Mensch den Wind schmecken kann, wenn er süß vom Duft der Blumen in den Wiesen heranweht. 

Werdet ihr eure Kinder lehren, was wir unsere Kinder gelehrt haben? Dass die Erde unsere Mutter ist? Krankheiten, welche die Erde befallen, befallen ebenso alle Geschöpfe dieser Erde. Dies wissen wir: die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört zur Erde. Die Erde ist kostbar und ihr schaden heißt der Schöpfung schaden.

Euer Gehabe ist uns ganz unverständlich. Was geschieht, wenn alle Büffel abgeschlachtet sind? Wenn das wilde Pferd gezähmt ist? Was wird geschehen, wenn alle geheimen Orte im Wald schwer sind vom Geruch zu vieler Menschen, wenn Drähte die Sicht auf die reifen Hügel verstellen? Was wird aus dem undurchdringlichen Dickicht? Es wird nicht mehr sein! Wo wird der Adler sein? Fort! Und was, wenn dem flinken Pferdchen nimmerwiedersehen gesagt wird? Vorbei? Das ist das Ende des Lebens und der Beginn des Überlebens.

Wenn der letzte Rote Mann verschwunden ist mit der Wildnis, wenn die Erinnerung an ihn nurmehr wie der Schatten einer Wolke ist, die im Himmel über die Prärie zieht, werden dann diese Küsten und Wälder noch sein? Wird vom Geist meines Volkes irgend etwas bleiben?

Wir lieben diese Erde, so wie ein neugeborenes Kind den Herzschlag der Mutter liebt. Wenn wir unser Land verkaufen, achtet es, wie wir es geachtet haben. Sorgt für diese Erde, wie wir für sie gesorgt haben. Vergeßt nicht, erinnert euch, wie es war dieses Land, als ihr es erhieltet. Hegt dieses Land für alle Kinder, und liebt es, so wie der Schöpfer uns liebt.

So wie wir ein Teil dieses Landes sind, so seid ihr ebenfalls Teil dieses Landes. Diese Erde ist uns kostbar. Sie ist auch euch kostbar. Wir wissen, es gibt nur einen Schöpfer. Kein Mensch, sei er rot oder sei er weiß kann außerhalb der Schöpfung sein. Wir sind Brüder.

(zur Geschichte der Indianer Nordamerikas empfehle ich die Website www.indianer.de)

Mittwoch, 14. April 2010

So ist es uns ergangen

So ist es uns ergangen.
Vergiß es nicht in beßrer Zeit! -
Aber Vöglein singen und sangen,
und dein Herz sei endlos weit.

Vergiß es nicht! Nur damit du lernst
zu dem seltsamen Rätsel "Geschick". -
Warum wird, je weiter du dich entfernst,
desto größer der Blick?

Der Tod geht stolz spazieren.
Doch Sterben ist nur Zeitverlust. -
Dir hängt ein Herz in deiner Brust,
das darfst du nie verlieren.

(Joachim Ringelnatz)

Samstag, 10. April 2010

Der kleine Häwelmann


Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Häwelmann. Des nachts schlief er in einem Rollenbett und auch des nachmittags, wenn er müde war, wenn er aber nicht müde war, so mußte seine Mutter ihn darin in der Stube umherfahren, und davon konnte er nicht genug bekommen.

Nun lag der kleine Häwelmann eines nachts in seinem Rollenbett und konnte nicht einschlafen: die Mutter aber schlief schon lange neben ihm in ihrem großen Himmelbett. "Mutter", rief der kleine Häwelmann, "ich will fahren!" Und die Mutter langte im Schlaf mit dem Arm aus dem Bett und rollte die kleine Bettstelle hin und her, und wenn ihr der Arm müde werden wollte, so rief der kleine Häwelmann: "mehr, mehr!" und dann ging das Rollen wieder von vorne an. Endlich aber schlief sie gänzlich ein, und so viel Häwelmann auch schreien mochte, sie hörte es nicht, es war rein vorbei.

Da dauerte es nicht lange, so sah der Mond in die Fensterscheiben, der gute alte Mond, und was er da sah, war so possierlich, dass er sich erst mit seinem Pelzärmel über das Gesicht fuhr, um sich die Augen auszuwischen; so etwa hatte der alte Mond all sein Lebtag nicht gesehen. Da lag der kleine Häwelmann mit offenen Augen in seinem Rollenbett und hielt das eine Beinchen wie einen Mastbaum in die Höhe. Sein kleines Hemd hatte er ausgezogen und hing es wie ein Segel an seiner kleinen Zehe auf; dann nahm er ein Hemdzipfelchen in jede Hand und fing mit beiden Backen an zu blasen. Und allmählich, leise, leise, fing es an zu rollen, über den Fußboden, dann die Wand hinauf, dann kopfüber die Decke entlang und dann die andere Wand wieder hinauf, dann kopfüber die Decke entlang und dann die andere Wand wieder hinunter. "Mehr, mehr!" schrie Häwelmann, als er wieder auf dem Boden war, und dann blies er wieder seine Backen auf, und dann ging es wieder kopfüber und kopfunter. Es war ein großes Glück für den kleinen Häwelmann, dass es gerade Nacht war und die Erde auf dem Kopf stand, sonst hätte er doch gar zu leicht den Hals brechen können.

Als er drei Mal die Reise gemacht hatte, guckte der Mond ihm plötzlich ins Gesicht. "Junge", sagte er, "hast du noch nicht genug?"

"Nein", schrie Häwelmann, "mehr, mehr! Mach mir die Tür auf! Ich will durch die Stadt fahren; alle Menschen sollen mich fahren sehen."

"Das kann ich nicht", sagte der gute Mond, aber er ließ einen langen Strahl durch das Schlüsselloch fallen und darauf fuhr der kleine Häwelmann zum Haus hinaus.

Auf der Straße war es ganz still und einsam. Die hohen Häuser standen im hellen Mondschein und glotzten mit ihren schwarzen Fenstern recht dumm in die Stadt hinaus; aber die Menschen waren nirgends zu sehen. Es rasselte recht, als der kleine Häwelmann in seinem Rollenbett über das Straßenpflaster fuhr; und der gute Mond ging immer neben ihm und leuchtete. So fuhren sie Straßen aus, Straßen ein; aber die Menschen waren nirgends zu sehen. Als sie bei der Kirche vorbei kamen, da krähte auf einmal der große goldene Hahn auf dem Glockenturm. Sie hielten still. "Was machst Du da?" rief der kleine Häwelmann hinauf.

"Ich krähe zum ersten Mal!" rief der goldene Hahn herunter.

"Wo sind denn die Menschen?" rief der kleine Häwelmann hinauf.

"Die schlafen", rief der goldene Hahn herunter, "wenn ich zum dritten Mal krähe, dann wacht der erste Mensch auf."

"Das dauert mir zu lange", sagte Häwelmann, "ich will in den Wald fahren, alle Tiere sollen mich fahren sehen!"

"Junge", sagte der gute alte Mond, "hast du noch nicht genug?"

"Nein", schrie Häwelmann, "mehr, mehr! Leuchte alter Monde, leuchte!" Und damit blies er die Backen auf, und der gute alte Mond leuchtete, und so fuhren sie zum Stattor hinaus und übers Feld und in den dunklen Wald hinein. Der gute Mond hatte große Mühe, zwischen den vielen Bäumen durchzukommen; mitunter war er ein ganzes Stück zurück, aber er holte den kleinen Häwelmann doch immer wieder ein.

Im Walde war es still und einsam; die Tiere waren nicht zu sehen; weder die Hirsche noch die Hasen, auch nicht die kleinen Mäuse. So fuhren sie immer weiter, durch Tannen und Buchenwälder, bergauf und bergab. Der gute Mond ging nebenher und leuchtete in alle Büsche; aber die Tiere waren nicht zu sehen; nur eine kleine Katze saß oben in einem Eichbaum und funkelte mit den Augen. Da hielten sie still. "Das ist der kleine Hinze!" sagte Häwelmann, "ich kenne ihn wohl; er will die Sterne nachmachen." Und als sie weiter fuhren, sprang die kleine Katze mit von Baum zu Baum. "Was machst Du da?" rief der kleine Häwelmann hinauf.

"Ich illuminiere", rief die kleine Katze herunter.

"Wo sind denn die andern Tiere?" rief der kleine Häwelmann hinauf.

"Die schlafen!" rief die kleine Katze herunter und sprang wieder einen Baum weiter, "horch nur wie sie schnarchen!"

"Junge", sagte der gute alte Mond, "hast du noch nicht genug?"

"Nein ", schrie Häwelmann, "mehr, mehr! Leuchte alter Mond, leuchte!" und dann blies er die Backen auf, und der gute alte Mond leuchtete, und so fuhren sie zum Walde hinaus und dann über die Heide bis ans Ende der Welt, und dann gerade in den Himmel hinein.

Hier war es lustig; alle Sterne waren wach und hatten die Augen auf und funkelten, dass der ganze Himmel blitzte. "Platz da!" schrie Häwelmann und fuhr in den hellen Haufen hinein, dass die Sterne links und rechts vor Angst vom Himmel fielen.

"Junge", sagte der gute alte Mond, "hast du noch nicht genug?"

"Nein!" schrie der kleine Häwelmann, "mehr, mehr!" und - hast du nicht gesehen! fuhr er dem alten guten Mond quer über die Nase, dass er ganz dunkelbraun im Gesicht wurde. "Pfui!" sagte der Mond und nieste drei Mal, "alles mit Maßen!" und damit putzte er seine Laterne aus, und alle Sterne machten die Augen zu. Da wurde es im ganzen Himmel auf einmal so dunkel, dass man es ordentlich mit den Händen greifen konnte. "Leuchte, alter Mond, leuchte" schrie Häwelmann, aber der Mond war nirgends zu sehen und auch die Sterne nicht; sie waren schon alle zu Bett gegangen. Da fürchtete der kleine Häwelmann sich sehr, weil er so allein im Himmel war. Er nahm seine Hemdzipfelchen in die Hände und blies die Backen auf; aber er wußte weder aus noch ein, er fuhr kreuz und quer, hin und her, und niemand sah ihn fahren, weder die Menschen noch die Tiere, noch auch die lieben Sterne. Da guckte endlich unten, ganz unten am Himmelsrande ein rotes rundes Gesicht zu ihm herauf, und der kleine Häwelmann meinte, der Mond sei wieder aufgegangen. "Leuchte, alter Mond, leuchte!" rief er, und dann blies er wieder die Backen auf und fuhr quer durch den ganzen Himmel und gerade darauf los. Es war aber die Sonne, die gerade aus dem Meere heraufkam. "Junge", rief sie und sah ihm mit ihren glühenden Augen ins Gesicht, "was machst du hier in meinem Himmel?" Und -eins, zwei, drei! nahm sie den kleinen Häwelmann und warf ihn mitten in das große Wasser. Da konnte er schwimmen lernen.

Und dann?

Ja und dann? Weißt du nicht mehr? Wenn ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können.

(Theodor Storm)

Donnerstag, 8. April 2010

Über eine beliebige Jungfrau


Die Jungfrau ist tätowiert: 
Generationen sind eingeschrieben ihrem 
makellosen Bauch; 
denn sie bedeutet alles 
was künftig ist.
Mit Regenbogen sind ihre Hände 
bemalt, die Arme mit baby-
lonischen Türmen.
Der Leib der Jungfrau ist 
bemalt von Gottes Hand, denn sie ist
der Ursprung der kommenden Welt.
Kein Zoll ihres Leibes ist ohne Entwurf und 
Plan für die Zukunft, keine Pore ist ohne 
Zeichnung: deshalb ist sie schön.
Wir wollen die Jungfrau lesen, 
die Zukunft 
erraten; denn wohlgemerkt,
der Mensch ist kurzsichtig, 
aber die Zeichnung 
lügt nicht. Sehn
Sie, in den Zeichen
sind Zeichen, Generationen verborgen 
in anderen Generationen.
Wer hat die Jungfrau bemalt? Das hat 
Gott getan 
am Tage des 
Sündenfalls.
Sehn Sie die Schlange, 
ihr einbeschrieben. 
Sehn Sie den Engel, 
ihr einbeschrieben.
Sehn Sie das Kreuz, 
ihr einbeschrieben. 
Meine Herren, treten Sie 
näher, der Eintritt ist frei. 
Sie sehen hier das Wunder der 
Wunder, meine Herren, ich werde Sie 
in die 
Mysterien 
einführen und 
die symbolischen Zeichen 
bis zum letzten Omega 
erklären. 
Treten Sie näher und bewundern 
Sie die fabelhafte Arbeit, 
eingraviert in den Leib 
der Jungfrau: die Geschichte 
der Welt, die bewohnte Stratosphäre, 
den Zauberer Tin-Ka-Lu 
auf der Reise zum Mond. 
Denn die Jungfrau 
ist wunderbar, 
es fehlt ihr nichts. 
Treten Sie näher, meine Herren, 
der Eintritt ist frei. 
Sie sehen hier abgebildet 
die Unschuld, 
die Lust, 
das Verbrechen, 
die Güte, 
und all diese unglaublichen Darstellungen 
sind der Jungfrau auf den
Rücken, 
den Hals 
und 
ins Gesicht 
geschrieben. 
Ihre Tätowierung wird einen Aufruhr erregen. 
Die Stunde ist äußerst ernst, meine Herren. 
Große Revolten 
stehen bevor. 
Sie sehen auf der Jungfrau 
ein Meer, 
Sie sehen ferner 
die sieben Schöpfungstage, 
Sie sehen 
die Sintflut, 
Sie sehen 
den Tod.
Treten Sie näher, meine Herren, 
der Eintritt ist frei. Meine Her-
ren, heute gibt es etwas zu sehen 
auf der Welt. Wir wollen die 
Jungfrau sehen, 
die bemalte Jungfrau, 
bemalt von 
Gott.
Sie ist nackt 
und nicht-nackt, 
ihre Zeichnung ist ihr Kleid.
Meine Herren, die Jungfrau wird 
sich vor Ihnen entblößen 
durch die Jahrtausende.
In ihrer Zeichnung sind 
Eingebungen, 
Gedichte, 
Geheimnisse.
Und deshalb ist unsere Schau einmalig! 
Und deshalb können Sie
der Jungfrau 
nicht widerstehen!
Treten Sie 
näher, meine Herren! 

(Jorge de Lima)

Montag, 5. April 2010

Laotse - Tao

Ehe Himmel und Erde entstanden 
bestand ein geheimnisvolles Unbestimmtes
schweigend, abgeschieden,
einzig und unwandelbar,
ewig kreisend in Bewegung
es gilt als Mutter der Welt
Ich kenne seinen Namen nicht
ich nenne es Tao
sein Name ist groß
groß heißt vergehend
vergehend heißt entfernt
entfernt heißt wiederkehrend
Darum:
Das Tao ist groß
der Himmel ist groß
die Erde ist groß
der Mensch ist auch groß
das sind die vier Großen des Alls
der Mensch ist einer davon
Der Mensch folgt der Erde
die Erde folgt dem Himmel
der Himmel folgt dem Tao
Das Tao folgt sich selbst

(Lao-Tse, aus dem Tao Te King,
Neufassung und Nachdichtung 
von Bodo Kirchner)

Freitag, 2. April 2010

He hat een in de Krone


Plattdeutsche Redensarten 
die Trunkenheit 
einer Person andeutend
gesammelt von 
Georg Christoph Lichtenberg, 
gewidmet:

Aller Hochwürdigsten, 
Hochgebornen Hochwürdigen, 
Hochwohlgebornen Wohlwürdigen, 
Wohlgebornen ehrwürdigen, 
Hochedelgebornen, 
wie auch allen Großachtbaren, 
Wohldedeln und Wohlehrenfesten launigen 
ROTEN NASEN 
namentlich also und schlechterdings 
ausgeschlossen alle diejenigen, 
die hier und da an Haubenstöcken oder 
haubenstöckenähnlichen Köpfen sitzen, 
eignet diesen Beitrag in Untertänigkeit zu 
der Sammler

He hat veel unter de Nase gegoten
He is fette
He is to lange up de Dößke wesen
He is knüppeldicke
He is so dik as en Täck
He hefft to veele püchelt
He is to lange under den Wacholderbaume wesen
He is snerrt
He hat sich todecket
He hat wat in de Krone
He hat wat im Timpen
He is ähmig
He hefft de Planken to leev
He heft to veele sipsölket
He hat wat im Sticksel
He geht up den Knobben na Hus
He kann keen Küken höhmen
He is so dicke as en Beest
He hefft de Jacke voll
He hat wat im Knaupe
He hefft to viele knipset
He kükt uf fif Augen
He hefft den Tecken dicke
He is en Swinigel
He hett flammet
He hefft den Pigel dicke
He is so dicke as en Pedde
He is so dicke as en Swin
He hat den Boden sehen
He is bemüselt
He hat in kenen Rauk anbetet
He grallögt
He is duhn
He is carthövven
he is so dicke as en Schindertieve
He swimslaget
He is karthaunendick
He hat sick wat int Auge wisket
He hette qualmet
He is half sieven
He hefft to veele pullet
He is so stramm as en Trummel
He is jöhlig
He is döfft
He is dull und vull
He is en Suput
He is en supkumpan
He hett sick bepumpelt
He hett en Rummel
He sweckt
He het sickk gegigelt
He het sick den Ars begoten
He hett to deep int glas keken
He hett to veel nipt
De Wün is em in Capitolium stegen

(Georg Christoph Lichtenberg 1742 - 1799,
Professor für Mathematik und Experimentalphysik
in Göttingen, bekannt für seine geistreichen Aphorismen;
Zeichnung von Wilhelm Busch)