Dienstag, 30. März 2010

Fern Hill



Als ich noch jung war und leicht unter den Apfelzweigen
rund um das trillernde Haus, und so glücklich wie das Gras grün
               und die Nacht überm Talgrund voll Sternen,
                     ließ mich der Augenblick hollern und klettern
               golden in seiner Augen Blütezeit,
und geehrt bei den Heuwagen war ich Prinz der Apfelstädte
und einmal vor tiefer Zeit hieß ich die Bäume und Blätter
                    mit Maßliebchen und Gerste
                die Flüsse des Fallobstlichtes hinunterziehn.

Und als ich grün war und sorglos, berühmt bei den Scheunen
rund um den lustigen Hof, und so singend wie ich daheim war
               in der Sonne, die einmal nur jung ist,
                    golden in seines Schnittes Gnade
               ließ mich der Augenblick spielen und sein und scheinen,
und grün und golden war ich Hirt und Jäger, die Kälber
sangen zu meinem Horn, auf den Hügeln die Füchse bellten
                    klar und kalt,
                    und der Sabbath läutete langsam
               in der heiligen Bäche Kieselsteinen.

Die ganze Sonne lang war es Rennen und war es Wonne, die Heu-
felder so hoch wie das Haus, aus den Schornsteinen Lieder,
                    und Luft wars,
               und Spielen wars, Wasser und Funkeln
                    und Feuer so grün wie Gras.
               Und nachts, unter den einfachen Sternen
wenn ich schlafen ritt, trugen die Eulen den Hof davon,
den ganzen Mond lang hört ich, benedeit bei den Ställen, die
                    Nachtschwalbe
               fliegen mit Heuschobern, und die Pferde
                    flitzen ins Dunkel.

Und dann zu erwachen, und der Hof, wie ein Wandrer voll Tau,
weiß, mit dem Hahn auf der Schulter, war wieder da. Das war alles
               leuchtend, das war Adam und erste Frau,
                    der Himmel wieder gesammelt
               und die Sonne wurde an jenem Tage rund.
So muß es gewesen sein nach des einfachen Lichtes Geburt
am ersten Ort voller Trubel, als die Pferde gebannt und warm 
               hervorgingen aus dem wiehernden grünen Stall
                    auf die Felder von Jubel.

Und geehrt bei Füchsen und Fasanen ums lustige Haus,
und so glücklich wie das Herz lang war und die Wolken über
                    mir neu
               in der Sonne geboren wieder und wieder
                    lief ich achtlose Pfade.
               Meine Wünsche jagten durchs haushohe Heu,
und nichts scherte mich, als ich noch himmelblau war, daß
                    der Augenblick
in all seinem schallenden Walten nur wenig und nur solche
                    Morgenlieder
               erlaubt, bevor die Kinder grün und golden
                    ihm folgen aus der Gnade.

Nichts scherte mich in den lammweißen Tagen, daß der
                    Augenblick einst mich
hinauf in den Schwalbenschlag führt am Schatten meiner Hand
               im Mond, der immerzu steigt,
                    noch, daß ich ihn beim Schlafenreiten je
               fliegen hören würde mit hohen Feldern
und finden den Hof beim Erwachen für immer entflohen dem
                     kindlosen Land.
Ach, als ich jung war und leicht in seines gewaltigen Schnittes
                     Gnade
                     hielt mich der Augenblick grün und sterbend,
               ob ich auch sang in meinen Ketten wie die See.

(Dylan Thomas, Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger,
aus "Museum der modernen Poesie", Suhrkamp)

Freitag, 26. März 2010

Sohn des Blitzes

Und ohne dass sie geruhte die Kerkermeister zu verführen
hat sich aus ihrem Busen ein Strauß von Kolibris erhoben
ihren Ohren sind Blüten von Atollen entsprossen
spricht sie so süß zu mir dass ich erst gar nicht verstehe doch
              schließlich errate ich was sie mir versichert:
dass gegen die Strömung der Frühling eingetroffen
dass aller Durst gelöscht, der Herbst uns gewonnen ist
dass auf der Straße die Sterne geblüht haben mitten am Tage
und dass ihr Früchte ganz tief hängen
(Aimé Césaire)

Donnerstag, 25. März 2010

Hans Huckebeins Ende


Jetzt aber naht sich das Malheur,
denn dies Getränke ist Likör

Es duftet süß. - Hans Huckebein
taucht seinen Schnabel froh hinein

Und läßt mit stillvergnügtem Sinnen
den ersten Schluck hinunterrinnen

Nicht übel! Und er taucht schon wieder
den Schnabel in die Tiefe nieder

Er hebt das Glas und schlürft den Rest
weil er nicht gern was übrigläßt


Ei, ei! Ihm wird so wunderlich,
so leicht und doch absunderlich


Er krächzt mit freudigem Getön
und muß auf einem Beine stehn


Der Vogel, welcher sonsten fleucht,
wird hier zu einem Tier was kreucht.

Und Übermut kommt zum Beschluß
der alles ruinieren muß


Er zerrt voll roher Lust und Tücke
der Tante künstliches Gestricke.

Der Tisch ist glatt - der Böse taumelt -
das Ende naht - sieh da! Er baumelt

(Wilhelm Busch)

Sonntag, 21. März 2010

Wahrheit


ZEN Meister Tung-shan: 
"Ich zeige den lebenden Wesen die Wahrheit."

Mönch: "Wie sind sie danach?"

Tung-shan: "Keine lebenden Wesen mehr!"

(Tung -shan, 806 - 869 n.Chr.)


Rätsel


WSEIO KNÖNEN SEI DEIESN STAZ LSEEN, OWHOBL DIE BLUTHSAEBEN NCHIT IN DER RITHCIEGN RIEHNFOGLE SHETEN ?

Sinn des Daseins

Es gehört schon eine Menge Mut dazu,
schlicht und einfach zu erklären,
dass der Sinn des Daseins ist,
sich seiner zu erfreuen.
(Lao-Tse)

Buddha eröffnet seinem Jünger Kaspaya die Erleuchtung in der sogenannten Blumenpredigt; er zeigte ihm eine Blume zur Betrachtung und lächelte, Kaspaya verstand ihr Wesen und damit den Sinn des Daseins. 

Samstag, 20. März 2010

Frühlingsdämmerung

In der stillen Pracht,
In allen frischen Büschen und Bäumen
Flüsterts wie Träumen
Die ganze Nacht.
Denn über den mondbeglänzten Ländern
Mit langen weißen Gewändern
Ziehen die schlanken
Wolkenfraun wie geheime Gedanken,
Senden von den Felsenwänden
Hinab die behenden
Frühlingsgesellen, die hellen Waldquellen,
Die‘s unten bestellen
An die duftigen Tiefen,
Die gerne noch schliefen.
Nun wiegen und neigen in ahnendem Schweigen
Sich alle so eigen
Mit Ähren und Zweigen,
Erzählens den Winden,
Die durch die blühenden Linden
Vorüber den grasenden Rehen 
Säuselnd über die Seen gehen,
Dass die Nixen verschlafen auftauchen
Und fragen,
Was sie so lieblich hauchen -
Wer mag es wohl sagen?

(Joseph von Eichendorff)

Dienstag, 16. März 2010

Hinter den Dünen


Dienstag Nachmittag der 16. März, der zweite sonnige und warme Tag nach der langen Kälteperiode. Hinter den Dünen bei Le Gurp verläuft der Weg durch den Pinienwald. Ich komme mit dem Fahrrad zurück von Soulac, hatte an der Strandpromenade Muscheln gegessen, dazu Wein getrunken. Weit konnte ich über den Ozean schauen, so klar die Sicht, der alte Leuchtturm vor der großen Flußmündung, weit dahinter die hohe Küstenlinie von Royan nach Norden, soweit das Auge reicht, drei Fischkutter dümpeln in der Dünung. 

Auf dem Rückweg, Müdigkeit spürend, hatte ich mich in der Sonne zwischen schützenden Büschen hingelegt, war auf dem trockenen Moos eingeschlafen. Ich träumte:

Über den Waschbecken einer Restauranttoilette. Ich hänge wie eine Spinne unter der Decke, nicht weit vom Deckenlicht entfernt. Eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter stürzen herein, voll Angst, flüchten sich in eine Ecke. Da erscheint ein Schatten vor dem runden Fenster in der Tür, ein Panzerknacker tritt herrisch ein, kräftig, mit starken Muskeln, Stoppelhaare, er schaut in den Spiegel über dem Waschbecken. Darin sehe ich seine schwarze Panzerknackermaske, seine schwarzen Knopfaugen. Er streicht mit der Handfläche über seinen Stoppelbart und sieht mich im Spiegel. Ich lasse mich fallen und stehe -oh weh- mit meinen zwei Beinen -ich bin ein ganz normaler Mensch- wackelig vor dem Panzerknacker, fühle mich gar nicht gut... 

Und wache auf, nieße… denn eine Spinne läuft mir über das Gesicht, gerade vor meinen Nasenlöchern. 

Bald bin ich daheim. Ich höre das leise Rauschen der Brandung, vereinzelte Möwenschreie. Leicht bewegt sich das Gras im Ostwind.

(Panzerknacker von der Panzerknackerbande, 
die jede Woche aufs Neue versucht, 
Onkel Dagoberts Riesengeldtresor zu knacken.
Ich fand die Panzerknacker immer eher sympathisch. 
Träume: eigenartig, eigenartig)

Dienstag, 9. März 2010

Lydia erzählt

Rrrums - der Zug rangierte. Wir fielen aneinander. Und dann erzählte sie weiter und erklärte mir jedes Haus am Strom, soweit man sehen konnte.

"Da - da is das Haus, wo die alte Frau Brüschhaber in giewohnt hat, die war eins so fühnsch, dass ich‘n beßres Zeugnis gehabt hab als ihre Großkinder; die waren ümme so verschlichen... und da hat sie von‘n ollen Wiedow, dem Schulderekter, gesagt: Wann ick den Kierl inn Mars hat, ick sheet em inne Ostsee! Un das Haus hat dem alten Laufmüller giehört. Den kennst du nich auße Weltgeschichte? Der Laufmüller, der lag sich ümme inne Haaren mit die hohe Obrigkeit, was zu diese Zeit den Landrat von der Decken war, Landrat Ludwig von der Decken. Und um ihn zu ärgern, kaufte sich der Laufmüller einen alten räudigen Hund, und den nannte er Lurwich, und wenn nu Landrat von der Decken in Sicht kam, denn rief Laufmüller seinen Hund: Lurwich, hinteh mich! Und denn griente Laufmüller so finsch, und den Landrat ärgerte sich ... und davon haben wi auch im Schohr 1918 keine Revolutschon giehabt. Ja." - "Lebt der Herr Müller noch?" fragte ich. - "Ach Gott, neien - he is all lang dod. Er hat sich giewünscht, er wollt an Weg begraben sein, mit dem Kopf grade an Weg." - "Warum?" - "Dscha... dass er den Mächens so lange als möchlich untere Röck... Der Zoll." Der Zoll.

(Aus "Schloß Gripsholm" von Kurt Tucholsky)

Montag, 8. März 2010

Laotse


Laotse ist kein Eigenname, sondern heißt "der Alte". Von Laotse weiß man nichts genaues. Manche sagen, er habe im 7. Jahrhundert v. Chr. gelebt, andere im 3. Jahrhundert, wieder andere im 5. Jahrhundert. Manche sagen er sei 200 Jahre alt geworden, andere sprechen von 90 Jahren, wieder andere von 120 Jahren. Wahrscheinlich war er alt, weswegen man ihn Laotse nannte.

Die Legende sagt: als die Zustände im Reich sich so verschlimmert hatten, dass das große Chaos auszubrechen drohte, soll Laotse auf einem schwarzen Ochsen sitzend das Land verlassen haben am Grenzpaß Han Gu. Hier habe ihn der Zöllner Yin Hi gebeten, ihm etwas Geschriebenes zu hinterlassen. Darauf habe Laotse den Tao Te King niedergeschrieben, eine Schrift aus etwa 5000 chinesischen Zeichen. Dann sei Laotse weitergegangen nach Westen, niemand wisse wohin...

Von der Unabhängigkeit

Klein sei das Reich
wenige das Volk
die Güter reich
der Verbrauch gering
das Leben wertvoll
die Reisen kurz
Boote und Wagen
werden nicht gebraucht
Rüstung und Waffen
werden nicht verwendet
Schnüre geknotet
statt zu schreiben

Die Speisen schmackhaft
die Kleidung passend
die Wohnung friedlich
die Gebräuche freudig

Die Nachbarn in der Nähe
dass Hunde und Hähne
zwar zu hören sind
aber ohne Besuch
und in Frieden
das Leben zu beschließen

Vom Tiefgründigen

Die tiefe Ruhe ist unvergänglich
Sie ist das tiefe Weibliche
des tiefen Weiblichen Pforte
die Wurzel des Himmels und der Erde

Wer sie bewahrt
wirkt ohne Mühe

Vom Mütterlichen

Der Anfang der Welt
Ist die Mutter der Welt
Wer die Mutter erkennt
erkennt sich als Kind
wer als Kind sich erkennt
bewahrt seine Mutter
und fürchtet das Ende nicht

Wer seine Worte mindert
und seine Türen schließt
ist am Ende mühelos

Wer seine Worte mehrt
und geschäftig handelt
ist am Ende hoffnungslos

Das Beachten des Kleinen
nennt man Klarheit
Das Bewahren der Nachgiebigkeit
nennt man Stärke

Dem inneren Licht zu folgen
führt zur Einsicht zurück
und bewahrt vor Unheil

Das heißt:
Die Erfahrung des Unendlichen

(Übersetzung und Nachdichtung von Bodo Kirchner)

Sonntag, 7. März 2010

Vom Niedergang


Der Weise strebt nicht nach Weisheit
darum ist er weise
der Wohlwollende strebt nach Weisheit
darum ist er nicht weise

Der Weise handelt nicht, ohne Absicht
der Wohlwollende handelt nicht, mit Absicht
Der Menschliche handelt ohne Absicht
der Gerechte handelt mit Absicht
der Gesetzestreue handelt
und folgt ihm keiner
erzwingt er es

Darum:
Wenn die Weisheit verlorengeht
herrscht Wohlwollen
Wenn das Wohlwollen verlorengeht
herrscht Menschlichkeit
Wenn die Menschlichkeit verlorengeht
herrscht Gerechtigkeit
Wenn die Gerechtigkeit verlorengeht
herrscht Gesetzestreue

Doch die Gesetzestreue
ist nur dürftige Redlichkeit
und der Beginn der Verwirrung
Wissen ist nur glänzender Schein
und der Beginn der Unwissenheit

Darum verweilt der Weise
bei der Fülle des Tao
nicht bei dessen Dürftigkeit
bei seiner Wirklichkeit
nicht bei dessen Schein

Darum läßt er jenes
und nimmt dieses an

(Lao Tse, aus dem Tao Te King 
Neufassung und Nachdichtung
von Bodo Kirchner)

Vom Genügen

Wenn die Welt dem rechten Weg folgt
ziehen die Pferde den Jauchewagen
Wenn die Welt den rechten Weg verläßt
züchtet man Streitrosse an den Grenzen

Keine größere Schwäche
als das Begehren
Kein größeres Unheil
als Unzufriedenheit
Keine größere Sünde
als die Habgier

Erkenne darum
dass genug genug ist
und immer genügen wird

Vom Wirken ohne Tun

Das Nachgiebige überwindet das Starre
Das Formlose durchdringt die Form
Deshalb weiß ich:
Wirken entsteht durch Nicht-Tun

Lehren ohne Worte
Wirken ohne Tun
wenigen gelingt dies

(Lao Tse, aus dem Tao Te King
Neufassung und Nachdichtung
von Bodo Kirchner)

Freitag, 5. März 2010

Vom Harten und Weichen

Der Mensch 
tritt ins Leben
weich und zart
im Tode ist er
hart und starr

Alle Wesen
treten ins Leben
weich und zart
im Tode sind sie
trocken und hart

Darum
ist das Harte und Starre
Zeichen des Todes
das Weiche und Schwache
Zeichen des Lebens

Ist das Heer starr und stark
wird es untergehen
ist der Baum hart und stark
wird er gefällt werden

Das Harte und Starke vergeht
Das Weiche und Schwache besteht

(Laotse, aus dem Tao Te King
Neufassung und Nachdichtung 
von Bodo Kirchner;
Foto: blühende Mimosen im Wind
über meinem Wohnwagen)

Vorfrühling

mimosen und pinien,
mein zelt, 
morgenhimmel, wind,
vögel singen,
die amsel baut ihr nest 

Montag, 1. März 2010

Das Inkrafttreten des Schlagobersverbotes in Wien


Der erste Tag der "obersfreien" Wiener Kriegsjause

Wien, 2. August 1915

Mit dem gestrigen Tage war in Wien die Statthaltereiverordnung, die die Verwendung von Schlagobers, und zwar sowohl die Erzeugung als den Verkauf und die gewerbsmäßige Verwendung verbietet, in Kraft getreten. Auch zur gewerbsmäßigen Erzeugung von Gefrornem war von heute ab die Milchverwendung untersagt, was das Ende aller Arten von "Obersgefrornem" bedeutete. Die Durchführung der Verordnung ging, wie hervorzuheben ist, ganz glatt von statten. Das Publikum der Kaffehäuser fügte sich widerspruchslos in die neue Ordnung, die mit der notwendigen Einschränkung des Milchverbrauches begründet ist. Wie die Abschaffung des Weißgebäcks, so wurde auch die Abschaffung des Schlagobers verständnisvoll als eine jener zweckmäßigen Maßregeln hingenommen, die uns das Durchhalten erleichtern sollen. Bemerkenswert waren die Veränderungen in der "Wiener Jause", die der gestrige Tag bereits beobachten ließ. In den Küchen der Stadtkaffeehäuser gab es plötzlich ganz überflüssige Geräte; die außer Dienst gestellten "Schlagobermaschinen". Als die Jausenzeit in den zahllosen "Jausenstationen" des Wiener Rayons herannahte, trat das neue Verbot erst eigentlich in Erscheinung. Überall wurde Kaffee ohne die so charakteristischen weißen "Borten" von Obers serviert. Die zahlreichen Damenjausenbesucherinnen auf den Kaffeeterassen nahmen die vom Markör kurz erläuterte Abschaffung des gewohnten Doppelschlag mit Verständnis entgegen und bestellten einfach - "Melange mit Haut". In den Kaffehäusern sind im Kellner Jargon die Stammgäste längst in "Schlag-" und in "Hautesser" eingeteilt. Letztere zumeist Herren, mußten jedoch die gewohnte Zutat heute vielfach entbehren, da von einem Liter Milch beim besten Willen nicht mehr als höchstens fünf Portionen damit versehen werden konnten.

Eine weitere Folge der Reform war, dass die Markörkunststücke, sieben bis acht Kaffegläser auf einmal zu befördern, nicht mehr durchführbar waren. Ein Markör erkärte dies damit, dass der "Gupf" von Schlagobers bisher eine feste Bindung des Kaffees nach oben gebildet habe, so dass nichts verschüttet werden konnte. Nun aber gerate die leere Flüssigkeit allzu leicht ins "Schwabbern", so daß nur mehr drei bis vier Tassen auf einmal getragen werden könnten.

Die zweite Neuerung des gestrigen Tages in den Kaffehäusern war die Abschaffung des Obersgefrornen. Die Kaffeesieder halfen sich damit, dass sie das Gefrorne - kalt gestelltes Kaffee -Eis - statt mit Beimengung von Obers mit - Wasser versetzten. Die breite Lage von Obers auf den Gläsern wurde, um der Darbietung ein "Gesicht" zu geben, durch gehäuftes Vanilleeis halbwegs ersetzt, auch wurden hie und da größere Portionen geboten. Auch die übrigen Gefrornensorten wurden noch geboten, jedoch mit Wasser hergestellt und ohne Oberschaum. Das Publikum hielt sich mehr an die Fruchteissorten, "Erdbeer", "Himbeer" usw.

Bei den Zuckerbäckern versuchte man gleichfalls das entfallende Schlagobers so gut als möglich zu ersetzen. Die Schlagoberskrapfen waren sämtlich verschwunden. Wie schon angekündigt, half man sich mit "Schnee" aus Eiweiß. Die "Erdbeeren mit Rahm", bisher eine im Sommer beliebte Erfrischung, waren natürlich nicht zu ersetzen. Aber auch das Publikum der Zuckerbäcker erwies sich verständig genug, um sich mit der unvermeidlichen Maßregel, die die Schonung der Milchvorräte bezweckt, rasch abzufinden.

In Kreisen der Gewerbe, die sich mit den durch das Schlagobersverbot berührten Artikeln befassen, konnte man vielfach Zweifel bezüglich der Gültigkeit des Verbotes hinsichtlich eventueller Verwendung von Trockenmilchtabletten zur Eisbereitung vernehmen. Tatsächlich ist die Trockenmilch, die auch vom Ausland eingeführt wird, in der Verordnung nicht erwähnt, und es bedürfte entsprechender Unterweisung, ob auch die Trockenmilch in das Milchverbot bei der Eiserzeugung einbezogen ist. 

(Karl Kraus, aus "ein Tag aus der großen Zeit" 1915. 
Spruch des Tages:  
Den eisernen Becher, den vollen, weiht
Den eisernen Helden der eisernen Zeit! )