Samstag, 23. Januar 2010

Mein erster Tag in Indien


-aus meinem Reisetagebuch vom 15. November 2007 -

Wir setzen an zum Landeflug. Rot steigt die Sonnenscheibe aus dem Golf von Bengalen. Im Dunkeln unter uns Madras. Palmen auf Hügeln neben der Landebahn. Wir setzen auf. In der Ankunftshalle wechsle ich zwei 100 € Scheine. Nach langwierigen Formalitäten -Pass, Kinder?, verheiratet?, Name der Mutter??- erhalte ich 1 Kilo Rupien einzeln in die Hand. Durch eine Drehtür trete ich aus der Halle in Indien ein. -Paff!! Paff!!- Wie ein feuchtwarmes Handtuch klatscht die Schwüle in mein Gesicht. Dazu eine Kakophonie von Lärm. Verdutzt trete ich durch die Drehtür wieder in die Halle. -Stille- Aus der Halle: Schwüle, Lärm, Lärm, Menschenmassen, überall.

Um Gotteswillen, Frank! Du hast es nicht anders gewollt! Eine schöne Bescherung. Suche ich mir nun ein Zimmer in Madras oder fahre ich sofort nach Pondichery? Nach Pondichery. Ich nehme ein Prepaid-Taxi zum Busbahnhof. Der Schock: sie fahren wie die Irren. Krieg! Jeder gegen jeden, immer und überall. Am irrsinnigsten die Lastwagen und Busse. Gurte und Helme gibts nicht. Dafür bedecken Shivas, Ganeshs und andere Götter die Windschutzscheiben. Auf der Rückseite der Fahrzeuge sind in knallrot und knallgelb Teufelsfratzen mit aufgerissenen Mäulern und riesigen Zähnen gemalt, daneben Dreizacke, dazwischen in Leuchtbuchstaben "air horn" und "fancy horn".

Dies ist keine Werbung. Nein, eine Warnung. Es meint: dies Gefährt ist mit einer preßluftangetriebenen Lärmvorrichtung ausgestattet, die bei sachgerechter Ausrichtung dein Trommelfell zum Platzen bringt. Ein "air horn" schafft dies mit einem einzigen Ton, ein "fancy horn" mit einer Tonfolge. Mein Taxifahrer fragt, ob ich verheiratet sei. Geschieden? Kopfschütteln. Ob ich Kinder habe, wieviele Söhne und Töchter. Drei Söhne? Oh, ich Glücklicher. Er habe eine liebe Frau, drei Töchter und einen Sohn. Dort das Foto. Bald werde Hochzeit gefeiert. Wohin ich denn wolle mit dem Bus? Nach Pondichery?

Wumm!!! Kehrtwendung um 180 Grad. Wie im Kino. Air horn und fancy horn in action. Mein Chauffeur wedelt mit beiden Armen und Händen aus dem Fenster. Tatsächlich beiden. Hat er eine dritte Hand zum Steuern? Ein Monsterbus - rote Teufelsfratze, Dreispitze, Fancyhorn - bremst vor uns. Ich springe aus dem Taxi hinein in den Bus. Es gibt noch einen freien Platz auf der hintersten Bank. Viele Gesichter und Augen lachen mir zu: welcome in India.

60 Rupies zahle ich für 4 Stunden Fahrt. Von allen Seiten wieseln Tuki-Tuks um uns herum, umschwirren uns wie Mückenschwärme. Tuki-Tuks sind qualmende, dreirädrige Rikshaws mit Zweitaktmotor. Lizenz Piaggio. Langsam erreichen wir den Stadtrand. Nur noch vereinzelt läßt sich ein Tuki-Tuk erblicken. Reisfelder, Wasserbüffel, Palmenhütten, Menschen bei der Feldarbeit, der Golf von Bengalen, Fischerboote. Gegen Mittag kündigt sich Pondichery an: lärmende Mopeds, Schwärme von Pousse-Pousse (so heißen hier die Tuki-Tuks). Wir erreichen den Busbahnhof. Der Schweiß strömt mir aus allen Poren. Meine Brille beschlägt, ich muß sie abnehmen, stolpere kurzsichtig ins Menschengewühle. Überall leere Plastikflaschen auf dem Boden. Ich gleite über Plastikflaschen in ein Pousse-Pousse: "good morning Sir. Auroville please."

Wir halten im Visitorscenter. Doch ist dies die falsche Adresse. Nach 3 km Fahrt durch den Wald erreichen wir die "solarkitchen", darüber befindet sich der "guest service". Die Dame am Empfang -eine Holländerin- bedeutet mir erst einmal, daß man in 5 Minuten schließe. No problem. Ich entscheide mich für ein Zimmer im Youth Camp. "Jugend hat kein Alter" meint die Holländerin "Sie sind doch sicher Pfadfinder gewesen." Wohl eher nicht. Ist dies ein Kompliment? Ein Althippie nimmt mich auf dem Motorrad mit. Wir kommen an. Ein junges indisches Paar mit Kleinkind begrüßt mich freundlich. Eine einfache, saubere, hübsche Anlage. Erst einmal duschen. Dann schlafe ich eine Stunde.

Ein Fahrrad habe ich gemietet. Damit rolle ich den Hügel hinab, überquere die Küstenstraße, radle durch ein Palmhüttendorf zum Ozean. Über einen Berg von Plastikflaschen schiebe ich das Fahrrad zum Strand. Da stehe ich nun mit den Füßen im Golf von Bengalen, dem Stillen Ozean. Ungeheuer mächtige Wellen schlagen auf den Strand. Ich springe trotzdem ins Meer. Die erste Welle haut mich um, dazu eine enorm starke Seitenströmung. Nur raus hier! Später lese ich in der Zeitung, daß ein Typhoon vor Bangladesh hohe Wellen verursacht habe. Bei Madras soll es Fischerboote vom Strand gespült haben.

Ich wandere den Strand entlang, kehre ein ins Strandcafé Repos Beach, bestelle mir einen Spirulina-Karrotten Health Drink, setze mich im Schatten von Palmen an einen großen runden Tisch. Aaah, wie gut das tut. Ich schließe halb die Augenlider, genieße den Augenblick. Ein Aufschrei in Französisch von links auf mich gerichtet. Ich öffne die Augen. Ein magerer, ziegenbärtiger Franzose wedelt aufgeregt:"ton 3ème oeil lance de la lumière, un rayon de lumière blanche!" Mein drittes Auge? "Ah oui?" sage ich "et ça veut dire quoi?" "C‘est très, très fort" höre ich. Da beginnt mein rechter Tischnachbar auf mich einzureden. Er sei Pharsi, Perser, Anhänger einer alten Religion, der Zoroastrier. Er lebe in Kalifornien, studiere Mythologien, schreibe Bücher. Ich nicke ihm zu. Ist ja interessant. Und er redet, redet, redet... Ein Göttername nach dem anderen, querbeet über die ganze Welt und alles ganz furchtbar verschlungen. Leises Schwindelgefühl. Flüsternd eröffnet er mir, daß er ein wohlbehütetes Geheimnis entdeckt habe. "Die CIA ist in der Hand von Aliens, sie manipulieren die Menschheit, fachen Kriege und Terror an, wollen uns zu Robotern machen..." Mit Feingefühl gelingt es mir aufzustehen und mich von meinen Tischnachbarn zu verabschieden.

Ich radle langsam den Hügel zur Jugendherberge hoch. Ein weiß gekleideter, weißhaariger Inder begrüßt mich von der Terasse seines weißen Hauses, lädt mich zum Tee ein. Wir kommen ins Gespräch. Er habe ein Zimmer zu einem günstigen Preis zu vermieten, gebe Unterricht in Meditation, Yoga und Flötenspiel. Ein sympatischer Mensch, ein indischer Weiser. Bin höflich, höre interessiert zu. Da eröffnet er mir, daß er schon in jungen Jahren -jetzt sei er 60, mein Alter- Wunder verursacht habe, sei von Nehru in 18 Länder geschickt worden, um die Sache Indiens zu vertreten. Er sei Brahmane, habe von seinen Ahnen außergewöhnliche spirituelle Fähigkeiten geerbt. Leise frage ich, um welche Art von Wundern es sich handle. 30 Schweigesekunden.

"Vor 25 Jahren habe ich mit meinem Willen den Mount Everest um 3 m geköpft, sozusagen erniedrigt. Haben Sie davon gehört?" Ja, in der Tat erinnere ich mich gelesen zu haben, daß die Höhe des höchsten Berges dieser Welt in den Schulbüchern aller Nationen um 3 m nach unten korrigiert werden mußte. "Fälschlicherweise wird dies mit der Erderwärmung erklärt" höre ich "in Wahrheit habe ich dies mit meinem Willen erwirkt." Ich schweige und staune. Was gibt es auch da zu sagen? "Ich habe seit vielen Jahren meinen Namen abgelegt, heiße nur noch no. 7, nach der Zahl der Wunder." Er reicht mir eine Visitenkarte mit no. 7. Schweigend sitze ich auf meinem Stuhl, nippe Tee. No. 7 beginnt auf seiner Bambusflöte zu spielen. Leise dreht es sich in meinem Kopf, die Augenlider fallen mir zu, im Halbschlaf die Flötenmusik hörend kämpfe ich darum, nicht vom Stuhl zu fallen. Die Musik ist beendet, no. 7 sitzt mir schweigend gegenüber. Ich bedanke mich, verabschiede mich, steige auf mein Fahrrad und radle langsam weiter den Hügel hinan.

Ich spüre Hunger, halte an einem kleinen Restaurant. Vom Nachbartisch höre ich in Bayrisch, daß heute Abend im Zentrum von Auroville ein französischer Film noir mit Philippe Noiret und Jeanne Moreau spiele, ein Kultfilm. Wäre nicht schlecht. Danach wäre ich sicherlich anständig müde, eine gute Gelegenheit mich rasch an die indische Zeit anzupassen. So mache ich mich per Rad auf zum 6 km entfernten Kino. Es ist 17.30 h, die Sonne steht hinter den Bäumen. Um Punkt 18 h fällt die Dunkelheit vom Himmel. Pechschwarz ist es. Ich steige ab, drücke den Dynamo an den Reifen. Steige wieder auf und fahre weiter. "Nanu, immer noch kein Licht." Vielleicht brauchen die indischen Dynamos Zeit zum Aufwärmen, so wie Dieselmotoren? Brauchen sie nicht. keine Birne ist in der Lampe, nicht vorn, nicht hinten. "Macht nichts, das schaffe ich schon: Kultfilm:"

So hoppele ich über Stock und Stein. Ab und zu überholt mich ein Moped mit Licht, oder es kommt mir eines blendend entgegen. So kann ich ab und an erkennen, wohin der Weg mich führt. Eine große, weiche, schwarze Masse taucht direkt vor mir auf. Eine widerkauende heilige Kuh schnauft mich leise an. Ich steige ab, führe das Fahrrad um das heilige Tier, steige wieder auf. Da blockiert eine Gruppe von Ziegen auf der Straße liegend meine Weiterfahrt. Sind dies ebenfalls heilige Tiere? Ich steige ab, führe das Rad um die Ziegen, steige auf. Der Weg kommt mir lang vor, frage einen indischen Spaziergänger nach dem Kino. "You are lucky, take this shortcut" er zeigt mir einen Weg, der rechts abführt "its only ten minutes from here." Das ist nun eine gute Nachricht. Jetzt zeigt sich die Mondsichel am Himmel. Der Weg verengt sich, Zweige schlagen mir ins Gesicht. Ein Moped mit einem jungen Mann und einer jungen Frau überholen mich. Links im Mondschein die blanke Fläche eines Sees mit dem sich spiegelnden Mond. Frösche quaken.

"Welch wunderschöne Natur!"

Ich rolle locker einen sanften Hügel hinab. Das Vorderrad versinkt unter mir im Boden. Schlamm schließt sich um mich bis über den Bauchnabel. Ich stecke fest im Morast. Eine Millionen Frösche quaken. Ich entscheide mich, den Kultfilm ein anderes Mal anzuschauen, mache mich auf zur Jugendherberge. So umfahre ich wieder die heiligen Ziegen, die heilige Kuh, höre irgendwann die Brandung des Stillen Ozeans vor mir. Bald sollte ich ankommen.

Stattdessen stoße ich auf die Küstenstraße mit Bussen, Lastwagen, PKW's mit röhrenden Airhorns und Fancyhorns. Der indische Wahnsinn! Irgendwie muß ich falsch gefahren sein, frage zwei junge Leute nach dem Weg. "Yes, yes, youth camp" In etwa 2 km die Straße nach rechts. Das waren 2 km höllische Fahrt auf der Landstraße. Allein bin ich nicht. Vor, hinter, neben mir, viele, viele Fahrräder und alle, alle ohne Licht. Ich biege rechts ab. Wieder radle ich langsam den Hügel hinauf am weißen Haus von no. 7 entlang. Kurz vor Mitternacht komme ich in der Jugendherberge an. Unsäglich gräßlicher Gesang in Französisch. Eine Gruppe katholischer, französischer Pfadfinder sitzt am Tisch vor meinem Zimmer, klampft und wimmert fromme Gesänge.

JE SUIS DÉGOUTÉ!!!

Ich gehe zum Sanitärblock, dusche mich ausgiebig. Ich falle ins Bett, schlafe augenblicklich ein. Mitten in der Nacht reißt mich ein Alptraum aus dem Schlaf. Zum 500. Mal mache ich die mündliche Abiturprüfung in Französisch und die Prüfer starren alle auf meinen erigierten Penis, denn ab dem Bauchnabel bis zu den Füßen bin ich splitternackt.

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