Sonntag, 20. Juni 2010

Eine Geschichte aus dem alten China


Zur Zeit von Laotse: 

Ein armer, alter Mann lebte in einem Dorf, doch er hatte ein überaus schönes weißes Pferd. Reiche und Mächtige boten ihm viel Geld zum Kauf. Der alte Mann lehnte jedesmal ab mit den Worten: „Dieses Pferd ist mein Freund. Wie könnte ich meinen Freund verkaufen?“

Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf lief zusammen und die Leute sagten: „Du dummer alter Mann! Wir haben immer gewusst, dass das Pferd eines Tages gestohlen würde. Es wäre besser gewesen, es zu verkaufen. Welch ein Unglück!“

Der alte Mann antwortete: „Geht nicht so weit das zu sagen. Sagt einfach: das Pferd ist nicht im Stall. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen, weiss ich nicht. Wer weiß, was darauf folgen wird?“

Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst, dass er nicht ganz klar im Kopf ist.

Nach zwei Wochen kehrte das Pferd zurück, es war nur in die Wildnis gelaufen. Und nicht nur das, es brachte zwölf wilde Pferde mit. Wieder liefen die Leute des Dorfes zusammen: „Alter Mann, Du hattest recht. Es war kein Unglück, es hat sich tatsächlich als ein Segen erwiesen.“

Der Alte entgegnete: „Wieder geht Ihr zu weit. Sagt einfach: „Das Pferd ist zurück … wer weiss, ob das ein Segen ist oder nicht. Ihr lest nur ein einziges Wort in einem Satz – wie könnt ihr das ganze Buch beurteilen?“

Dieses Mal wussten die Leute nicht viel einzuwenden, aber innerlich dachten sie, dass der Alte unrecht hatte. Zwölf herrliche Pferde waren gekommen …

Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn, der begann, die Wildpferde zu zähmen. Eine Woche später fiel er vom Pferd und brach sich die Beine. Wieder liefen die Leute zusammen und sagten „Du hattest recht! Es war ein Unglück. Dein einziger Sohn kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen und er war die einzige Stütze deines Alters. Jetzt bist Du ärmer als zuvor.“

Der Alte antwortete: „Ihr seid besessen von Urteilen. Geht nicht soweit. Sagt nur, dass mein Sohn sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiss, ob dies ein Unglück oder ein Segen ist.“

Es begab sich, dass das Land einige Wochen danach einen Krieg begann. Alle jungen Männer des Dorfes wurden eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil seine Beine gebrochen waren.

Klagen und Wehgeschrei erfüllten das Dorf; denn dieser Krieg war nicht zu gewinnen. Die meisten der jungen Männer würden nicht nach Hause zurückkehren. So sagten die Leute dem alten Mann: „Du hattest recht, alter Mann – es hat sich als Segen erwiesen. Dein Sohn ist zwar verkrüppelt, aber immerhin ist er noch bei Dir. Unsere Söhne sind für immer fort.“

Der alte Mann antwortete wieder: „Ihr hört nicht auf zu urteilen. Sagt nur dies, dass Eure Söhne eingezogen wurden und dass mein Sohn nicht eingezogen wurde. Ob dies ein Segen oder ein Unglück ist, was wissen wir?“

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