Donnerstag, 18. November 2010

Daphnis und Chloé

Am folgenden Tage aber, da sie auf die Weide gekommen waren, setzte sich Daphnis unter die gewohnte Eiche und flötete und sah zugleich auf die Ziegen hin, die gelagert waren und seinen Tönen zu horchen schienen; Chloe aber saß in seiner Nähe und sah zwar auch auf die Herde der Schafe, mehr aber noch auf Daphnis hin. Und wie sie ihn so flöten sah, schien er ihr wiederum schön, und diesmal hielt sie die Musik für die Ursache der Schönheit, daher sie nach ihm auch selbst zur Syrinx griff, ob sie wohl ebenfalls schön würde. Sie beredete ihn aber auch wiederum zu baden und sah ihm beim Baden zu und berührte ihn, indem sie ihn ansah, und als sie wieder fortging, lobte sie seine Schönheit, und dieses Lob war der Liebe Anfang. Was ihr aber widerfuhr, wußte sie nicht, denn sie war jung und in ländlicher Unwissenheit aufgewachsen, und nicht einmal von andern hatte sie den Namen der Liebe gehört. Mißmut beherrschte ihre Seele; der Augen war sie nicht Herr und oft sprach sie von Daphnis. Nahrung verabsäumte sie, bei Nacht wachte sie, die Herde verachtete sie, bald lachte, bald weinte sie, bald schlief sie, bald sprang sie auf, ihr Angesicht ward blaß und wiederum von Erröten glühend.

(Text von Longos von Lesbos, ca. 3. Jahrh. v. Chr.
Lithographie von Marc Chagall)

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