Freitag, 4. Juni 2010

Reise ins Herz der Finsternis

Ich reiste auf einem französischen Dampfer ab, der in jedem verfluchten Hafen, den sie da draußen haben, einen Zwischenhalten einlegte, und das nur, soweit ich sehen konnte, um Soldaten und Zollbeamte abzusetzen. Ich beobachtete die Küste. Eine Küste zu beobachten, während sie am Schiff vorüberzieht, ist wie über ein Rätsel nachdenken. Da liegt sie vor einem – lächelnd, stirnrunzelnd, einladend, großartig, böse, stumpfsinnig oder wild, und immer stumm mit dem Hauch eines Flüsterns: ‚Komm her und entdecke mich.’ Diese hier wies kaum Besonderheiten auf, sie schien sich erst noch zu formen und bot den Anblick grimmiger Eintönigkeit. Der Saum eines gewaltigen Dschungels, so dunkelgrün, dass er fast schwarz wirkte, und gesäumt von weißer Brandung, lief gerade, wie mit dem Lineal gezogen, eine blaue See entlang, deren Glitzern durch einen schleichenden Nebel verwischt wurde. Die Sonne brannte, und das Land schien glänzend und tropfend vor Schweiß. Hier und dort zeigten sich Ansammlungen gräulich-weißlicher Flecken durch die weiße Brandung hindurch, und manchmal wehte eine Flagge darüber. Siedlungen, die schon Jahrhunderte alt waren und doch nicht größer als Stecknadelköpfe vor der unberührten Weite hinter ihnen. Wir stampften voran, hielten an, setzen Soldaten ab, fuhren weiter, setzten Zollschreiber ab, die offenbar in einer Wellblechhütte mit Flaggenmast mitten in der gottverlassensten Wildnis die Ein- und Ausfuhren besteuern sollten, setzen noch mehr Soldaten ab – wahrscheinlich sollten sie die Zollschreiber im Auge behalten. Einige von ihnen, so war zu hören, ertranken in der Brandung; aber niemand schien sich besonders dafür zu interessieren. Sie wurden einfach vom Schiff geworfen und weiter ging die Reise. Jeden Tag sah die Küste gleich aus, es war, als hätten wir uns nicht bewegt; in Wirklichkeit passierten wir eine Reihe von Orten – Handelsstationen – mit Namen wie Groß-Bassam, Klein-Popo; Namen, die zu irgendeiner abgedroschenen, vor einer unheimlichen Kulisse gespielten Farce zu gehören schienen. Der dem Passagier eigene Müßiggang, meine Isolation unter all diesen Männern, zu denen ich keinen Kontakt hatte, die ölige und träge See, die düstere Gleichförmigkeit der Küste, all das schien mich von der den Dingen innewohnenden Wahrheit abzuhalten und in die Mühen einer trübsinnigen und sinnlosen Wahnvorstellung einzuspinnen. Die Stimme der Brandung, die ich ab und zu hörte, war eine freudige Ausnahme und erschien mit wie die Stimme eines Bruders. Sie war etwas Natürliches, das eine Ursache und eine Bedeutung hatte. Hin und wieder vermittelte einem ein von der Küste kommendes Boot einen Augenblick des Kontakts mit der Wirklichkeit. An den Rudern saßen Schwarze. Man konnte von Ferne ihre Augäpfel glänzen sehen. Sie riefen, sangen; ihre Körper waren schweißüberströmt; sie hatten Gesichter wie groteske Masken – diese Burschen; aber sie waren knochig, muskulös, voll wilder Lebendigkeit und einer intensiven Bewegungsenergie, die so natürlich und wahr wie die Brandung an ihrer Küste war. Sie brauchten keine armseligen Gründe dafür, am Leben zu sein. Ihr Anblick war ein enormer Trost. Eine Weile hatte ich den Eindruck, immer noch zu einer Welt der einfachen Tatsachen zu gehören, aber das Gefühl hielt nicht lange an. Irgendetwas passierte immer, das es wieder vertrieb. Einmal, so erinnere ich mich, trafen wir auf ein vor der Küste ankerndes Kriegsschiff. Es gab dort nicht einmal eine Hütte, aber trotzdem feuerten seine Kanonen in den Busch. Wie es scheint, führten die Franzosen irgendwo da draußen einen ihrer Kriege. Die Hoheitsflagge hing schlaff herunter wie ein Fetzen Stoff, die Mündungen der Sechszöller ragten überall aus dem niedrigen Schiffsrumpf heraus; die schmierige, schleimbedeckte Dünung trug das Schiff träge nach oben, ließ es wieder herunter und brachte die dünnen Masten zum Schwanken. Da lag es also unbegreiflich in der leeren Weite von Erde, Himmel und Wasser und feuerte in einen Kontinent hinein. Bumm! machte in regelmäßigen Abständen einer der Sechszöller, dann schoss eine kleine Flamme heraus und verschwand wieder, etwas weißer Rauch löste sich auf, ein winziges Geschoss ließ ein schwaches Kreischen hören – und nichts geschah. Es konnte auch nichts geschehen. Ein Hauch von Wahnsinn lag in der Vorgehensweise, in dem Anblick ein Gefühl drolliger Schwermut; und beides löste sich auch nicht dadurch in Luft auf, dass mir jemand an Bord ernsthaft versicherte, dass sich irgendwo dort draußen außer Sichtweite ein Lager der Eingeborenen – er nannte sie Feinde! – befand.
Wir übergaben die Post (wie ich hörte, starben die Seeleute auf jenem einsamen Schiff mit einer Geschwindigkeit von drei Mann am Tag) und setzten unsere Reise fort. Wir fuhren noch weitere Orte mit grotesken Namen an, wo jeden Tag der gleiche fröhliche Toten- und Händlertanz in einer stillen und erdgeschwängerten Luft, die der Atmosphäre einer überhitzten Katakombe gleicht, abgehalten wird; die ganze Küste entlang, wo die Brandung so gefährlich schäumt, als ob Mutter Natur selbst die Eindringlinge abhalten wollte; in Flüsse hinein und daraus hervor, Todes- und Lebensströme, deren Ufer zu Schlamm vermoderten, deren Wässer in schleimgetränkter Zähigkeit die verzerrten Formen der Mangroven bedrängten, die sich uns in höchster, aber ohnmächtiger Verzweiflung entgegenzukrümmen schienen. Nirgendwo ankerten wir lange genug, um einen besonderen Eindruck des jeweiligen Ortes zu gewinnen,
aber das allgemeine Gefühl eines vagen und drückenden Staunens überkam mich immer stärker. Die Reise war wie eine mühselige Pilgerfahrt inmitten von Zeichen des Alptraums.


(Auszug aus der Novelle von Joseph Conrad "das Herz der Finsternis".)

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