Donnerstag, 1. November 2012

Eigentum



Man holt die Beispiele von dort her, wo das Leben sie einem am aufdringlichsten zutrug.

Ich lag in Einzelhaft, gekleidet in ein Sträflingsgewand. Das Haar war kahlgeschoren. Kein Gürtel hielt die Hose. Die hohen Schuhe standen mangels verschnürender Riemen klaffend offen. Der Löffel wurde mir mit dem Blechnapf zweimal täglich in die Zelle gereicht und zehn Minuten danach wieder abgenommen. Nichts war, was mir gehörte: Da entdeckte ich das Eigentum. Mit dem Geringen, das ich vorher besessen hatte, war auch meine Identität verloren. Denn: »Ich« – das war, wie ich erfuhr, am Ende nicht nur mein Leib, den die Hautoberfläche eingrenzte, sondern auch, was dieser Leib auf sich trug: Haar, Kleid, Schuh. Es war sogar noch mehr, so die mir »eigentümliche«, nur mir gehörige Geste, mit der ich ein Päckchen aus der Tasche holte und mir eine Zigarette anzündete.

Zu mir gehörten eine Anzahl von Gebärden und Gewohnheiten, die ihrerseits nur durch ein ganz bestimmtes »Eigentum« möglich waren. Mit diesem hatte ich mich selber verloren, fremd starrte mir, wenn der Zufall mich in einer Fensterscheibe mein Spiegelbild erblicken ließ, ein kahler, gebärdenloser Sträfling, ein Nichts entgegen. Das, was man in der Phänomenologie den »phänomenalen Raum« der Person nennt, war zerstört. Dem Einzigen, der ich war, hatte man sein Eigentum und damit seine Einzigkeit genommen.

Es dauerte nur ein paar Monate. Alsbald kam ich aus der Zelle in die »Stube«, den Gemeinschaftsraum der aus politischen Gründen Inhaftierten. Und dort war es eine andere Art von Eigentum, deren ich mir bewußt wurde. Wir waren in diesem Raum weniger arm als vordem in Einzelhaft. Einer besaß ordentliches Schuhwerk, ein anderer hütete eifersüchtig ein paar selbstgeschnitzte Löffel, einem dritten gelang es auf rätselhafte Weise, sich ständig mit Brotkanten illegitimer Herkunft zu versorgen. Und in wilder bösartiger Leidenschaft neidete man einander, was man besaß: Ich kann nicht sagen, daß ich selbst frei war von diesem so quälenden wie beschämenden Gefühl.

So kam es, daß ich mich manchmal zurücksehnte in die Zelle und den Zustand der totalen Eigentumsfreiheit. Dort war ich mit meinen Nachbarn, die ich durch Klopfzeichen kannte, Bruder unter Brüdern gewesen, in ungebrochener Solidarität. Hier, in der »Stube«, war schon das Eigentum im Begriff, uns zu korrumpieren und moralisch zu zerstören.

Seither ist viel Zeit hingegangen. Oftmals aber habe ich noch Gelegenheit gehabt, dem Erfahrenen nachzudenken. Heute ist mir klar, daß ich in jenen Tagen die Grundkontradiktion des Eigentums erlebt habe: Wir sind nichts, wenn wir unsere Hautoberfläche nicht überschreiten können, indem wir das, was uns gehört, aus bloßem Besitz zu einem Eigentum machen, das schließlich Eigentümliches wird. Das gleiche Eigentum aber, da wir es doch der »Welt« (was nichts anderes heißen kann als: den Mitmenschen) entreißen, macht uns den anderen zu ihren Gegen-Menschen. Jegliches Eigentum, seien es nur ein Paar Schuhe, ein primitives Handwerkszeug, ein Stück Brot, kann grundsätzlich in bestimmten Situationen uns den anderen, da dieser es für sich haben möchte, als den Feind erleben machen, und uns ihm als den Widersacher, der ihm etwas vorenthält.

Nichts ist zurückzunehmen: Die Fortsetzung der physischen Person in die Welt hinein über die Vermittlung des frei und zu jeder Zeit verfügbaren Eigentums ist ein vielleicht moralisch »unveräußerlicher«, historisch aber nur allzu oft entäußerter Teil der Person. Wie weit aber reicht diese? Der Inhaftierte in der Zelle meinte, nur bis zum Haar, dem Kleid, den Schuhen, dem Päckchen Zigaretten. Der Besitzer einer Kleinwohnung aber, dem man morgen diese nimmt, um ihn in einem Gemeinschaftsraum unterzubringen, wo er das von Elias Canetti so eindringlich beschriebene Grauen vor der Berührung durch den anderen stärker als vordem verspürt, wird auf den zweieinhalb Zimmern, die sein waren und es nicht mehr sind, als auf einem Teil seines Ich bestehen. Der enteignete Hausbesitzer wird sich als einen Amputierten erleben. (Ich selbst fühle mich im wörtlichen Sinne körperbehindert, wenn mein Kleinwagen für ein paar Tage zur Reparatur in der Garage ist.) Und Onassis wird es als eine unerhörte Zumutung betrachten, wenn man sein Ich daran hinderte, sich in Luxusjachten über die Weltmeere hin auszudehnen.

Doch spiele ich darum nicht das tückische Spiel Max Stirners mit; denn wie klar mir immer die phänomenale Situation des um sein Eigentum bangenden Einzigen sei, so ist mir mindestens ebenso deutlich, daß es viele sind, die solch ein Eigentum fordern, und daß die je für sich stehenden Tendenzen der eigentumsgebundenen Expansion des Ich sich aneinander stoßen, daß die korrumpierende, mit dem Nebenmenschen auch die eigene Person zerstörende Gewalt des Eigentums ebenso groß ist wie die das Ich in der Fortsetzung aufbauende.

Was immer geschah bislang, diese Widersprüche aufzuheben, waren schlecht taugliche, an der Wirklichkeit täglich scheiternde, im besten Falle ein prekäres Gleichgewicht herstellende Kompromisse. In der Bundesrepublik Deutschland, so lese ich in einem Handbuch, sei das Eigentum grundsätzlich gewährleistet, mit der Begrenzung allerdings, daß »der Gebrauch des Eigentums zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll«. Man frage nicht, wer bestimmt, wo der Gebrauch zum »Wohle der Allgemeinheit« überschritten wird, wo das Eigentum beginnt, Raub zu werden: Prinzipiell ist es ein solcher schon dort, wo es erst keimhaft vorhanden ist. Allerdings – und damit verlassen wir den Raum des aus der unmittelbar gelebten Erfahrung Ableitbaren und treten über in den Bereich der nicht mehr in phänomenologischen Kategorien sich bewegenden Sozialtheorien –, allerdings gibt es Auffassungen, nach denen die Eigentumskontradiktion gesellschaftlich überwindbar sei.
Jean-Paul Sartre, bei dem es gut ist, immer wieder nachzuschlagen, wenn man vor unentwirrbar scheinenden Fragen steht, führt das Problem des Eigentums auf die »rareté«, den Mangel zurück. Wollen wir ihm glauben, dann ist der Wunsch, zu besitzen, nichts als die verinnerte Form des Mangels, beziehungsweise der Furcht vor dem Mangel, die wir mitschleppen aus den Tagen gering entwickelter Produktivität, so daß wir sogar noch inmitten der Konsum- und Überflußgesellschaft uns verhalten wie jener Mensch, der dem Menschen ein Wolf war, weil er um seine physische Subsistenz physisch kämpfen mußte.
Ähnlich argumentiert der marxistisch-trotzkistische Wirtschaftstheoretiker Ernest Mandel. Bei einem seiner Vorträge, dem ich beiwohnte, fragte er rhetorisch ungefähr: Wer in unserer fortgeschrittenen Industriegesellschaft stiehlt im Café an anderen Tischen Zucker? Niemand natürlich, denn es ist Zucker im Überfluß vorhanden, und sogar wer sieben Stück in seinen Kaffee tun möchte, brauchte sie nur vom Kellner zu verlangen und würde sie ohne Aufzahlung erhalten. In einer sozialistischen Überflußgesellschaft würde es nicht nur hinreichend Zucker für jeden Anspruch geben. Auch Schuhe, Kleider, allenfalls sogar Rundfunkempfänger und Kühlschränke würden in solchem Umfang vorhanden und für jedermann erschwinglich sein, daß niemand auf den Gedanken käme, noch mehr davon besitzen zu wollen. Das ganze Problem des Eigentums und des Kampfes darum sei nichts als eine Frage vernünftiger Produktion und gerechter Verteilung.

Es fehlt mir jegliche Qualität, zu entscheiden, ja auch nur eine annähernd begründbare Meinung darüber auszusprechen, ob die sozialistische Gesellschafts- und Produktionsordnung, die Mandel übrigens nur in industriell hochentwickelten Ländern als möglich erachtet, tatsächlich Gebrauchsgüter in solcher Menge würde produzieren können, daß sie zu jedermanns Verfügung stünden wie heute die Zuckerwürfel im Café. Ich habe meine Zweifel, will sie aber gerne zurückstellen, da ich von einer ganz anderen Seite her zu argumentieren geneigt bin.

Es will mir nämlich durchaus nicht in den Sinn, daß das mit dem Expansionsverlangen in die Welt und die Dinge hinein ausgestattete Ich nichts sei als, wie Sartre es meint und wie indirekt auch Mandel es zu verstehen gibt, Ausdruck der Verinnerung des von unzureichender und unvernünftiger Produktion herrührenden Mangels. Ich glaube – allerdings kann ich mich hierbei nur auf Erlebnisfakten und letzten Endes auf Introspektion berufen –, daß das Verlangen nach wahrhaft unveräußerlichem Eigentum, nach Ausschließlichkeit eines je so und nicht anders gearteten Besitzes, in der Grundkondition der Körperlichkeit wurzelt.

Am Ende steht immer das Verlangen des Körpers
So wie ich meinen Körper habe, der den anderen Körper zwar unter Umständen ersehnt, ihn aber allerwegen auch scheut, so verlange ich auch nach einem phänomenalen, diesen Körper in die Weite führenden Raum, der gleichfalls meine und nur meine Sache ist: Keine Möglichkeit, Konsumgüter in unbegrenztem Maße zur Verfügung zu haben, wird, wie ich meine, dieses zugleich körperliche und körpertranszendierende Verlangen zu befriedigen vermögen. Im Gegenteil, je mehr ich frei »benutzen« darf, desto inniger wird der Wunsch werden, ein Eigenes, Unverwechselbares und Unaustauschbares zu eigen zu haben. So wie ich an anderer Stelle den Freiheitswunsch auf das Bedürfnis der Atemfreiheit glaubte zurückführen zu dürfen, so meine ich, daß die Forderung nach Eigentum ein Derivat des Dranges nach physischer Bewegungsfreiheit ist – und: nicht zuletzt Sublimierung des Verlangens, mir etwas einzuverleiben, denn auch in der Zuführung von Speisen erweitere ich meinen Körper, diesen letzten und äußersten Bezugspunkt meines Ich.
Darum glaube ich, daß wir, ungeachtet aller Wirtschaftsformen, deren nötige Transformation zu leugnen mir nicht einfällt, in der fundamentalen Eigentumskontradiktion werden weiterleben müssen. Daß ich nicht als Einziger Anspruch auf ein Eigentum habe, wird, so scheint es mir, dem anderen stets das verzerrte Antlitz des mich bedrohenden Widersachers geben.

(Jean Améry, ein Aufsatz aus dem Jahre 1973)

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